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6 Monate Perú: Gedanken, Erlebnisse und Gefühle

Seit sechs Monaten lebe ich nun hier in Perú und habe inzwischen einige kleine Fortschritte gemacht: Ein cafecito ist nicht einfach nur ein Kaffee, sondern ein Käffchen mit viel Liebe, wir treffen uns "jetztchen", um ein Momentchen ein Mittagesschen einzunehmen und über die Projektchen mit den Kinderchen zu sprechen. Bei all den Verniedlichungen darf der "carino" natürlich nie fehlen, eine unübersetzbare Mischung aus Liebe, Mühe, Zuwendung und gutem Willen. Das erklärt auch die enorm freundliche Geselligkeit, man zieht sich selten ins Private zurück, vielmehr lädt man Freunde, ferne Bekannte zum Lonchecito zu sich ein, trifft sich auf der Straße, auf Festen, quatscht über die fürchterliche Kälte, Rezepte  und verbringt so die Zeit selten einsam. Egal, was man hat oder wie präsentierbar es aussieht, man teilt sein Essen, sein Haus und seine Familie großzügig und hat immer etwas zum Anbieten daheim, selbst wenn es nur eine Tüte Brot ist. So wird auch das Bier niemals allein getrunken, sondern mit einem Plastikbecher im großen Kreis weitergereicht, so dass sich jeder selbst nach Lust und Laune bedienen kann. Vor dem Trinken wird jedoch ein kleiner Schluck an Pachamama, die Mutter Erde, geopfert und auf den Boden geschüttet. Feste werden immer und überall gefeiert, Anlässe gibt es genug. Nach einer kleinen, gewidmeten Messe tritt ein Blasorchester auf und die Menschen beginnen ihren traditionellen Trippeltanz im Kreis oder paarweise zu der schwungvollen Musik. Dabei bleibt niemand am Rande sitzen, sogar die "abuelitos" (Personen hohen Alters) schwingen ihr Tanzbein und bewegen sich genussvoll im Takt. Dafür wird meist keine Festhalle gemietet, sondern die Leute tanzen auf der Straße oder im Hinterhof, im Hintergrund das herrliche Panorama der Zentralanden. Jeder wird willkommen geheißen und darf auch das großzügige Mittagessen der Gastgeber teilen, das alle mit Plastikbesteck oder den Händen auf dem Boden sitzend essen. Dazu eine lilafarbene Chicha Morada (süßes Maisgetränk) und alles ist perfekt! 

Sobald man in diese gesellige Andenwelt des carinos eingetaucht ist und all diese liebenswürdigen Dinge selbst erfahren hat, die an dieser Stelle nur kleine Beispiele einer ganzen Mentalität sind, muss man sich einfach verlieben! Man mag hier Vieles finden, wo es an Effizienz, an technischer Modernität mangelt oder man die Leute als konservativ beschreibt, aber das Gesamtbild ist stimmig und ich möchte es mir gar nicht mehr anders vorstellen.

Was ich in diesem halben Jahr schon alles erleben und lernen durfte! Nicht im Traum hätte ich mir vorher vorstellen können, 2 Monate in einem Kloster zu leben, doch dann lernte ich die Nonnen aus einer anderen Sicht kennen. Ich sah ihre enorme Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und Offenheit für Jeden, durfte mit ihnen Salsa tanzen, Selfies machen und wandern gehen, wobei ich Tränen gelacht habe. Andererseits zeigten sie mir aber auch die Probleme des Landes, die Armut, die Korruption und das soziale Gefälle, aus dem so viele neue Probleme wachsen und ich durfte ihre Projekte dafür kennenlernen. Ich saß stundenlang in der Klosterküche und half beim Kartoffelschälen und Reis Säubern mit, rupfte Hühnchen klein und führte währenddessen Gespräche über die Weltliteratur mit einer Schwester. Und ich konnte in La Victoria leben, ein Distrikt, von dem jeder Reiseführer wegen der Kriminalität abrät, der mich aber täglich durch das Chaos, den Markt, den Lärm und das Leben zum Staunen gebracht hat.

Als ich das Vater Unser und das Ave Maria auf Spanisch wohl ausreichend beherrscht habe und die Kinder der Krippe, wo ich arbeitete, schweren Herzens verabschiedet hatte, fuhren wir endlich mit unserer Mentorin Schwester Beatriz hinauf in die Anden nach Tarma. Wir zogen in die Pfarrhaus-WG des Padre Juan Carlos und das Eingewöhnen, Einleben ging von Neuem los. Wir gewöhnten uns nach und nach an die enorme Spontanität des Pfarrers, ich stand nachts um 10 Uhr schnell auf, wenn der Padre ein Fest ankündigte und lief mit ihm auf den Platz, wo eine ausgelassene Fiesta stattfand. Wir lachten und stritten mit der Haushälterin Romina, kauften auf dem Markt im Chaos frisches Gemüse und Obst aus dem Regenwald und kochten fast jeden Tag. Mittags ging es dann los in das Kinderheim, auf dem Weg dorthin oft mit 15 Kindern in einen VW-Golf eingequetscht, und wir lernten unsere knapp 30 Kinder immer besser kennen und bauten ein Vertrauen mit ihnen auf. Im Heim wurde es nie langweilig, irgendjemand hatte immer Blödsinn im Kopf, wir spielten, machten Ausflüge, Sport und Wanderungen, bastelten, feierten Geburtstage, tanzten und backten Pizza und Plätzchen - ein buntes Programm. Außerdem brachten wir gemeinsam mit den Größeren dem Baby Yumico das Laufen und Schmarrn-Machen bei! Die Kinder gewöhnten sich an uns und empfingen uns täglich mit der Frage, in welchem Modul wir denn heute sind, woraufhin es entweder Jubel oder Enttäuschung gab. Die Kinder sind mir unglaublich ans Herz gewachsen und jeder Einzelne mit seinen Eigenheiten ist mir lieb geworden! Leider haben alle mit sehr schweren Hintergründen zu kämpfen, jede Woche erfahre ich eine neue Geschichte, die mir innerlich das Herz bricht - die Kleinen und Großen leiden unter der Unfähigkeit der Erwachsenen und mussten aus oft fürchterlichen Verhältnissen ins Heim, wo das Leben zwar sicher, aber keinesfalls gemütlich ist. Trotzdem begegnen die Kinder allen so freundlich und offen, sind zuvorkommend und lustig. Natürlich gibt es immer wieder Streitigkeiten und Ausfälle, bei einigen Kindern sieht man ganz deutlich, bei anderen weniger die Folgen ihrer Geschichte, aber es ist wunderschön zu sehen, wie die Kinder sich an Wanderungen oder einem Tanznachmittag erfreuen, sich für ihre neue Fußballmannschaft begeistern und aus sich herauskommen. Am meisten lerne ich hier von den Kindern, blicke noch dankbarer auf meine eigene Kindheit, Erziehung und unzähligen Möglichkeiten und versuche, den Kindern bestmöglich etwas zurückzugeben, ihnen eine Freude zu machen. 

In den vier Monaten in Tarma ist viel passiert, wir haben zwei Monate davon mit Anna genossen, mit ihr gelacht, Wanderungen gemacht und viel reflektiert und kennengelernt. In der Weihnachtszeit waren wir sogar zwei Tage im Regenwald bei Oxapampa, liefen stundenlang allein durch den Nebelwald, sahen Affen und unfassbar schöne Natur mit grünem Dickicht, das ab und zu einen freien Blick auf Sonnenstrahlen und nebelverhangene Täler freigegeben hat. Wir lernten zwar wenige, aber dafür umso bessere Freunde kennen, die uns die Kultur näher brachten und tolle Erlebnisse bescherten. Auch schlossen sie uns in ihre Familie ein, luden uns zu Festen im engen Kreis ein und sorgten dafür, dass wir uns sehr gut aufgenommen fühlten und immer Freude haben mit ihnen, sei es beim gemeinsamen Kochen, bei Wanderungen, Unterhaltungen oder Ausflügen.

So haben wir Weihnachten ohne besonderes Heimweh mit den Kindern verbracht, ganz anders, aber wunderschön, haben Silvester in den Bergen gefeiert und ins Jahr 2019 gestartet. Dann brachen wir zum Zwischenseminar auf, das für mich eine große Wende und viel Klarheit mit sich brachte: Durch den Austausch mit den anderen Freiwilligen bekam ich einen ganz neuen Blickwinkel auf den Freiwilligendienst, ein neues Verständnis für die peruanische und damit verglichen auch deutsche Kultur. Ich fasste neuen Mut, die aufgekommenen Probleme anzugehen, befreite mich von dem hohen Anspruch an mich selbst, der mich bis dahin durch die Arbeit im Heim immer mehr belastet und eingeengt hat, und lernte sehr nette Mädls kennen. Nach viel Freiheitsgefühl in der Wüste bei ein paar schönen Urlaubstagen ging es dann mit neuen Anregungen und gemischten Gefühlen wieder zurück nach Tarma in den Alltag. Nach einem kleinen Frustationstief (die Änderungen waren doch nicht so einfach wie gedacht) und vielen Bastelwochen im Heim haben wir mit der Anlage eines Gemüsebeets mit den Kindern ein neues Projekt gestartet und angefangen, mit den Mädls Volleyball zu trainieren. Mit der großen Unterstützung der Schwester Sonia bauen wir außerdem ein Fußballteam der Jungs auf und trainieren mehrmals wöchentlich für die Freundschaftsspiele am Wochenende. Außerdem beginnt gerade die Schule wieder und ein großer Teil unserer Arbeit verschiebt sich auf Hausaufgabenhilfe und Betreuung. 

So glücklich und dankbar ich gerade für alles bin, hatte ich auch mehrere schwierige Phasen mit Überforderung, Kraftlosigkeit und Infragestellung des Dienstes. Obwohl ich rückblickend die Zeit im Kloster positiv wahrnehme, habe ich mich währenddessen oft eingeengt und ausgebremst gefühlt. Ich bin mit der großen Motivation nach Peru gekommen, im Kinderheim zu arbeiten und dann saß ich oft stundenlang im Klostergarten, fühlte mich nutzlos und konnte auch nicht wirklich heraus. Durch die große Angst vom Anfang, etwas falsch zu machen und unhöflich zu sein, konnte ich diese Unzufriedenheit auch nicht gut äußern, bzw. wurde ich immer auf neue Daten der Abfahrt vertröstet. Ich vermisste die Selbstständigkeit und die aktive Betätigung, die 5-6 Stunden Arbeit in der Krippe und der Küche reichten mir nicht. In Tarma angekommen war ich dann sehr glücklich, aber vermisste plötzlich meine Familie. Ich spürte wohl zunehmend, wie lange ein Jahr sein kann und das Eingewöhnen zum zweiten Mal war anstrengend. In der Weihnachtszeit waren wir dann rundum beschäftigt, für Gedanken blieb kaum Zeit. Gerade als ich dann meinte, sehr gut angekommen zu sein, gab es großen Ärger im Haus und ich war ziemlich zurückgeworfen durch das Wissen, in die falschen Personen mein Vertrauen gesetzt zu haben. Das  geistert mir bis heute noch im Kopf herum, aber dank des Seminars konnte ich viel für mich klären und beiseite schieben. Der Freiwilligendienst birgt viele Schwierigkeiten: Interkulturelle Kommunikation, das Eingewöhnen ist oft wahnsinnig anstrengend und trotz aller Gastfreundlichkeit bleibt man hier als "Gringo" doch immer fremd. Ich lerne sehr nette Leute kennen, fast alle begegnen mir mit Herzlichkeit und Respekt und doch ist die Mentalität hier so anders und konservativ, dass wir Anschluss finden, aber nie ein wirklicher Teil Tarmas werden. Nur mit den Kindern und bei Ely fühle ich mich nicht als Fremde, sondern als Freundin, große Schwester oder Mama. Es ist oft anstrengend hier zu sein, aber trotzdem die beste Entscheidung, die ich getroffen habe. Ich lerne so viel von den Peruanern, sie schenken mir neue Blickwinkel und ich erlebe jeden Tag etwas spannendes Neues!

Leider rast die Zeit wahnsinnig und ich blicke mit sehr gemischten Gefühlen der Abreise entgegen: Ich freue mich auf Vieles in Deutschland, aber werde Peru, das Leben hier und vor allem die Kinder so sehr vermissen. Erstmal aber steht das zweite Halbjahr an mit vielen schönen Dingen. Meine Familie kommt tatsächlich schon im April zu Besuch, ich werde mehr reisen und einen Teil dieses herrlichen Landes sehen und hoffentlich so viel mitnehmen an Erinnerungen, wie ich nur kann! Danke an alle, die mich in meiner Entscheidung damals bestärkt haben! 

Und ein großes Dankeschön an diejenigen, die meinen Blog verfolgen und fleißig meine langen Artikel lesen!

Auf 6 weitere geniale Monate, ich freue mich!

Hasta luego!

 

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